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Tieger
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BeitragVerfasst am: So 10 Dez, 2006 00:48 Antworten mit ZitatNach oben

10. Dezember

EIN NIKOLAUS PACKT AUS
(Adventsgeschichte © Barbara Rach, Sulzbach)

Bald ist es wieder soweit. Weihnachten steht vor der Tür und ich hab keine Ahnung, was ich meinen Lieben schenken soll. Wenn ich dabei an letztes Jahr denke, überläuft es mich heiß und kalt...
Es war um die Adventszeit gewesen, als ich feststellen musste, dass ich weder Tannenbaum, noch Adventskranz besorgt hatte. Und überhaupt war eigentlich alles schief gelaufen, was schief laufen konnte, trotz Happy End...
Ich seufzte laut und setzte mich an den Küchentisch, um eine Liste der Sachen aufzuschreiben, die ich für das heilige Fest benötigen würde.
"Da wären Lebkuchen, Fensterschmuck, Blautanne, Kranz, Gans, Äpfel und Glühwein", murmelte ich vor mich hin, während vor meinem geistigen Auge der Name eines Kaufhauses aufflackerte.
Ja, dort würde ich alles bekommen und so ein Einkaufsbummel tut Leib und Seele wohl.
Frohen Mutes schwang ich mich in meinen weißen Opel und fuhr nach Saarbrücken. Ein Parkplatz war trotz des großen Treibens schnell gefunden. Soweit so gut, dachte ich und begab mich in die bunte Einkaufswelt. Ãœberall roch es nach gebrannten Mandeln und Plätzchen. Glänzende Kinderaugen, Santas in echt und aus Schokolade betörten meine Sinne.
Es gab nicht nur allerhand zu sehen, man konnte und durfte sogar kräftig mitmachen. So zum Beispiel wurde die Gelegenheit geboten sich selbst in einen Engel oder in einen Nikolaus zu verwandeln und beim Plätzchenwettessen den ersten Preis: "Eine Schlittenfahrt mit Santa Claus " zu gewinnen.
"Wow", brach es aus mir heraus, als plötzlich ein riesiger Rauschebart mit Sack und Rute vor mir stand und mich aufforderte einen Wunsch zu äußern. "Also", stotterte ich", "also eigentlich bin ich wunschlos glücklich".
"Wirklich?" fragte dieser mit dunkler, amüsanter Stimme.
"Ja, wenn das so ist, hier sind Flügel, Kleidchen, Perücke und Make up".
" Bitte?", ich dachte mich verhört zu haben, doch der Weihnachtsmann meinte es ziemlich ernst. "Aber ich kann nicht, ich muss noch Einkäufe tätigen und überhaupt, ich mach mich doch nicht lächerlich", wehrte ich ab.
"Wenn Du so wunschlos glücklich bist, wie Du sagst, dürfte es Dir ja nicht schwer fallen anderen ein bisschen Glück zu schenken. Fleißige Helfer/innen sind immer willkommen. Sei ein artiges Mädchen. Der Himmel wird es Dir danken". Mit diesen Worten schob er mich samt Kostüm in die Umkleidekabine und zog sie hinter mir zu.
Das ganze war doch bestimmt nur ein Scherz, dachte ich leicht irritiert. Ein gewagter Blick durch den Vorhang der Kabine ließ die Vermutung zu, dass es sich weder um einen Witz noch um einen Alptraum handelte.
Ich biss meine Zähne zusammen, die bereits vor lauter Unmut knirschten und tauschte Sein gegen Schein. Es dauerte nicht allzu lang bis ich als wahrer Rauschgoldengel aus der Umkleide "schwebte".
Der Spiegel nebenan log mir scheinheilig in mein schüchternes Engelsgesicht, denn statt mich unmöglich in dieser Verkleidung dastehen zu lassen, präsentierte er mich als göttliches Wesen, in einem Modellhimmelsgewand.
Ja dieses Image stand mir... Oder etwa nicht ???
Niko, wie ich meinen strengen Vorgesetzten nannte, wies mich flugs in die Kunst des Engelseins und in die Herrlichkeit der Christnacht ein.
Ich sang in Mitten hunderter Leute ein Weihnachtslied, das wahrscheinlich nicht mal der liebe Herrgott kannte und brachte damit kleine Kinder zum Weinen.
Als ich dann auch noch versuchte einem Mädchen meine Flugkraft zu beweisen, verloren meine Schutzengel wohl die Geduld mit mir und ließen mich von der selbst errichteten Leiter in der Obstabteilung direkt in die prall gefüllten Tomatenkisten stürzen.
Die Farbe rot stand mir allzu gut, denn ich schämte mich fürchterlich.
Die Reaktionen rundherum waren eindeutig zweideutig. Die einen lachten sich innerlich ins Fäustchen, während sie äußerlich die Haltung wahrten.
Andere konnten ihren Hohn nicht verbergen und stießen : "G e f a l l e n e r E n g e l" in kicherndem Ton hervor. Äußerlich wurde ich rot wie eine Tomate, innerlich flossen ozeanblaue Tränen und ich selbst befand mich inmitten eines Grüns der Hoffnung.
Ich hoffte, ja betete, dass Niko mich aus dieser peinlichen Situation herausholen würde. Was hatte er gefragt? Ob ich einen Wunsch hätte?
Oh ja, den hatte ich nun. Ich hatte den dringlichen Wunsch im Boden versinken zu dürfen.
Als ob Niko wirklich Gedanken lesen könnte, stand er wie ein geölter Blitz neben mir und nahm mich fest in den Arm.
Ich wollte mich losreißen, um ihm Frechheiten zu machen, er war ja schließlich an allem Schuld, als er seine Maske lüftete und mein eigener Vater zum Vorschein kam.
Ich dachte wirklich, ich stände vor dem jüngsten Gericht. Stumm, taub und überrascht versuchte ich das ganze Geschehen einordnen zu können.
Gott sei dank übernahm er die Initiative und zog mich durch die Menschenmenge nach draußen. Wir sahen uns zwei Minuten an und prusteten los. Auch er war während eines Einkaufsbummels zum Weihnachtsmann verdonnert worden und dachte sich, warum sollte es seiner Tochter besser ergehen.
Geteiltes Leid ist halbes Leid.
Ich musste zwar noch Tage nach geeigneten Weihnachtsgeschenken suchen, aber das war es mir wert, denn eigentlich war es wunderschön einmal dem Alltag auf diese magische Art und Weise entfliehen zu können.
Der Wermutstropfen ließ allerdings nicht lange auf sich warten, denn mein lieber Papa plaudert diese Geschichte überall aus.
Dafür muss er ab jetzt jedes Jahr im familiären Kreis Nikolaus spielen. Lach` ich dabei einmal zu viel, "packt Santa Claus einfach aus".

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BeitragVerfasst am: Mo 11 Dez, 2006 08:40 Antworten mit ZitatNach oben

Das ist eine ziemlich fiese Geschichte *gg* Einfach so ohne Vorwarnung als Engel eingespannt zu werden, wenn man doch eigentlich gar keine Lust und Idee hat, was man da machen soll. Ich wäre vermutlich gar nicht erst aus der Umkleidekabine gekommen ;-)

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Tieger
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BeitragVerfasst am: Mo 11 Dez, 2006 09:28 Antworten mit ZitatNach oben

Was wir uns schenken werden

Die beste Lektüre vor dem Weihnachts-Shopping
Von Ephraim Kishon

Damit Klarheit herrscht: Geld spielt bei uns keine Rolle, solange wir noch Kredit haben. Die Frage ist, was wir einander zu den vielen Festtagen des Jahres schenken sollen. Wir beginnen immer schon Monate vorher an Schlaflosigkeit zu leiden. Der Plunderkasten > Zur weiteren Verwendung < kommt ja für uns selbst nicht in Betracht. Es ist ein fürchterliches Problem.

Vor drei Jahren, zum Beispiel, schenkte mir meine Frau eine komplette Fechtausrüstung und bekam von mir eine zauberhafte Stehlampe. Ich fechte nicht.

Vor zwei Jahren verfiel meine Frau auf eine Schreibtischgarnitur aus carrarischem Marmor - samt Briefbeschwerer, Brieföffner, Briefhalter und Briefmappe, während ich sie mit einer zauberhaften Stehlampe überraschte. Ich schreibe keine Briefe.

Vorheriges Jahr erreichte die Krise ihren Höhepunkt, als ich meine Frau mit einer zauberhaften Stehlampe bedachte und sie mich mit einer persischen Wasserpfeife. Ich rauche nicht.
Heuer trieb uns die Suche nach passenden Geschenken beinahe in den Wahnsinn. Was sollten wir einander noch kaufen? Gute Freunde informierten mich, dass sie meine Frau in lebhaftem Gespräch mit einem Grundstücksmakler gesehen hätten. Wir haben ein gemeinsames Bankkonto, für das meine Frau auch allein zeichnungsberechtigt ist. Erbleichend nahm ich sie zur Seite: > Liebling, das muss aufhören. Geschenke sollen Freude machen, aber keine Qual. Deshalb werden wir uns nie mehr den Kopf darüber zerbrechen, was wir einander schenken sollen. Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen einem Feiertag und einem schottischen Kilt, den ich außerdem niemals tragen würde. Wir müssen vernünftig sein, wie es sich für Menschen unseres Intelligenzniveaus geziemt. Lass uns jetzt ein für allemal schwören, dass wir einander keine Geschenke mehr machen werden!

Meine Frau fiel mir um den Hals und nässte ihn mit den Tränen der Dankbarkeit. Auch sie hatte an eine solche Lösung gedacht und hatte nur nicht gewagt, sie vorzuschlagen. Jetzt war das Problem für alle Zeiten gelöst. Am nächsten Tag fiel mir ein, dass ich meiner Frau zum bevorstehenden Fest doch etwas kaufen müsste. Als erstes dachte ich an eine zauberhafte Stehlampe, kam aber wieder davon ab, weil unsere Wohnung durch elf zauberhafte Stehlampen nun schon hinlänglich beleuchtet ist. Außer zauberhaften Stehlampen wüsste ich für meine Frau nicht Passendes - oder höchstens ein Brillantdiadem, das einzige, was noch fehle. Einem Zeitungsinserat entnahm ich die derzeit gängigen Preise und ließ auch diesen Gedanken wieder fallen. Zehn Tage vor dem festlichen Datum ertappte ich meine Frau, wie sie ein enormes Paket in unsere Wohnung schleppte. Ich zwang sie, es auf der Stelle zu öffnen. Es enthielt pulverisierte Milch. Ich öffnete jede Dose und untersuchte den Inhalt mit Hilfe eines Siebes auf Manschettenknöpfe, Krawattennadeln und ähnliche Fremdkörper. Ich fand nichts. Trotzdem eilte ich am nächsten Morgen, von unguten Ahnungen erfüllt, zur Bank. Tatsächlich: Meine Frau hatte 260 Pfund von unserem Konto abgehoben, auf dem jetzt nur noch 80 Aguroth verblieben, die ich sofort abhob. Heißer Zorn überkam mich. Ganz wie Du willst, fluchte ich in mich hinein. Dann kaufe ich dir also einen Astraschahnpelz, der uns ruinieren wird. Dann beginne ich jetzt, Schulden zu machen, zu trinken und Kokain zu schnupfen. Ganz wie du willst. Gerade als ich nach Hause kam, schlich sich meine Frau, abermals mit einem riesigen Paket, durch die Hintertür ein. Ich stürzte auf sie zu, entwand ihr das Paket und riss es auf - natürlich. Herrenhemden. Eine Schere ergreifen und die Hemden zu Konfetti zerschneiden war eins. > Da - da! < stieß ich keuchend hervor. > Ich werde dich lehren, feierliche Schwüre zu brechen! < Meine Frau, die soeben meine Hemden aus der Wäscherei geholt hatte, versuchte einzulenken. > Wir sind erwachsene Menschen von hohem Intelligenzniveau <, behauptete sie. > Wir müssen Vertrauen zueinander haben. Sonst ist es mit unserem Eheleben vorbei. < Ich brachte die Rede auf die abgehobenen 260 Pfund. Mit denen hätte sie ihre Schulden beim Friseur bezahlt, sagte sie. Einigermaßen betreten brach ich das Gespräch ab. Wie schändlich von mir, meine kleine Frau, die beste Ehefrau von allen, so völlig grundlos zu verdächtigen.

Das Leben kehrte wieder in seine normalen Bahnen zurück. Im Schuhgeschäft sagte man mir, dass man die gewünschten Schlangenschuhe für meine Frau ohne Kenntnis der Fußmaße nicht anfertigen könne, und ich sollte ein Paar alte Schuhe als Muster mitbringen. Als ich mich mit dem Musterpaar unterm Arm aus dem Hautor drückte, sprang meine Frau, die dort auf der Lauer lag, mich hinterrücks an. Eine erregte Szene folgte. > Du charakterloses Monstrum! < sagte meine Frau. > zuerst wirfst du mir vor, dass ich mich nicht an unsere Abmachung halte, und dann brichst du sie selber! Wahrscheinlich würdest du mir auch noch Vorwürfe machen, weil ich dir nichts geschenkt habe ...< So konnte es nicht weitergehen. Wir erneuerten unseren Eid. Im hellen Schein der elf zauberhaften Stehlampen schworen wir uns, bestimmt und endgültig keine Geschenke zu kaufen.

Zum ersten Mal seit Monaten zog Ruhe in meine Seele ein. - Am nächsten Morgen folgte ich meiner Frau heimlich auf ihrem Weg nach Jaffa und war sehr erleichtert, als ich sie ein Spezialgeschäft für Damenstrümpfe betreten sah. Fröhlich pfeifend kehrte ich nach Hause zurück. Das Fest stand bevor und es würde keine Ãœberraschung geben. Endlich! Auf dem Heimweg machte ich einen kurzen Besuch bei einem befreundeten Antiquitätenhändler und kaufte eine kleine chinesische Vase aus der Ming-Periode. Das Schicksal wollte es anders. Warum müssen die Autobusfahrer auch immer so unvermittelt stoppen. Ich versuchte die Scherben zusammenzuleimen, aber das klappte nicht recht. Umso besser. Wenigstens kann ich meine Frau keines Vertragsbruches zeihen.

Meine Frau empfing mich im Speisezimmer festlich gekleidet und mit glückstrahlendem Gesicht. Auf dem großen Speisezimmertisch sah ich, geschmackvoll arrangiert, einen neuen elektrischen Rasierapparat, drei Kugelschreiber, ein Schreibmaschinenfutteral aus Ziegenleder, eine Schachtel Skiwachs, einen Kanarienvogel komplett mit Käfig, eine Brieftasche, eine zauberhafte Stehlampe, einen Radiergummi und ein Koffergrammophon (das sie bei dem alten Strumpfhändler in Jaffa am Basar unter der Hand gekauft hatte). Ich stand wie gelähmt und brachte kein Wort hervor.

Meine Frau starrte mich ungläubig an. Sie konnte es nicht fassen, dass ich mit leeren Händen gekommen war. Dann brach sie in konvulsivisches Schluchzen aus: > Also so einer bist du. So behandelst du mich. Einmal in der Zeit könntest du mir eine kleine Freude machen - aber das fällt dir ja gar nicht ein. Pfui, pfui, pfui. Geh mir aus den Augen. Ich will dich nie wieder sehen ... <

Erst als sie geendet hatte, griff ich in die Tasche und zog die goldene Armbanduhr mit den Saphiren hervor. Kleiner dummer Liebling.

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BeitragVerfasst am: Mo 11 Dez, 2006 09:39 Antworten mit ZitatNach oben

Ein wahre Geschichte!
Bei uns ist es fast ähnlich.
Nur schmeißen wir noch unser Geschirr kaputt, während wir uns anschreien!

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Tieger
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BeitragVerfasst am: Di 12 Dez, 2006 08:09 Antworten mit ZitatNach oben

warum tut ihr das? *fg*

Es ist Halbzeit...

12.12.

Der verkehrte Engel
© Patricia Koelle

[Weihnachtsgeschichten] Jedes Jahr freute sich Sanni darauf, dass am ersten Advent das Engelsglockenspiel aufgestellt wurde.
Schon die Schachtel klapperte so aufregend, wenn Oma sie aus dem großen Karton holte. Oma kam jedes Jahr zum ersten Advent zu Besuch und blieb, bis das neue Jahr anfing. Weil Mama mit dem Backen soviel zu tun hatte, waren es Oma und Sanni, die für den Adventsschmuck zuständig waren. Es gab große Strohsterne, die mit spitzen Reißzwecken an die Wände geheftet wurden, und lange Lichterketten. Um die aufzuhängen, brauchten sie die Leiter, weil Oma schon ein wenig krumm und klein geworden war.
Aber am liebsten mochte Sanni das Engelsglockenspiel.
Es schimmerte golden. Unten war ein Teller mit vier Kerzenhaltern, in die Sanni rote Kerzen stellen durfte. In der Mitte steckte ein Stiel, und an diesem Stiel hingen drei Glocken. Ganz oben drauf kam ein Rad, das sich drehte, wenn die Kerzen an waren.
Und an dieses Rad hängte Oma ganz zum Schluss das Allerwichtigste: fünf goldene Engel. Die Engel hielten jeder eine zarte Stange, und mit der schlugen sie gegen die Glocken, wenn das Rad sich drehte. Dann spielten sie eine feine, silberhelle Musik. Sanni spürte jedes Mal ein glückliches Kribbeln im Bauch, wenn sie das Klingeln hörte.
Oma und der Vater konnten die Musik nicht mehr hören, weil ihre Ohren schon so alt waren. Das machte die Musik noch aufregender, weil sie fast nur für Sannis Ohren war, so als teilte sie mit den Engeln ein Geheimnis.
Diesmal aber blickte der Vater streng auf das Glockenspiel, als sie beim Kaffee saßen und die erste Kerze auf dem Adventskranz leuchtete. "Da stimmt was nicht", sagte er vorwurfsvoll. "Der eine Engel ist verkehrt!"
Tatsächlich hatte Oma den Engel falsch herum aufgehängt. Alle Engel flogen ordentlich vorwärts, nur dieser eine, der flog rückwärts.
Sanni staunte, wie gut er das konnte.
Oma strich sich eine widerspenstige weiße Haarsträhne aus der Stirn und aß seelenruhig ihren Marzipanstollen. "Das macht gar nichts, wenn sich einer mal anders benimmt als alle anderen", sagte sie. "Auch bei Engeln nicht."
Mama versuchte, den Engel richtig herum zu hängen, doch der Engel war ganz heiß von den Kerzenflammen, und sie konnte ihn nicht anfassen.
Also flog er weiter rückwärts.
Am nächsten Tag, als die Kerzen aus waren, sah Sanni, wie der Vater den Engel richtig herum drehte.
Doch seltsam, als sie am zweiten Advent neue Kerzen anzündeten, flog der Engel wieder rückwärts.
Vater schüttelte den Kopf. Oma aß Marzipanstollen. Und Sanni bewunderte den Engel. Sie fand ihn mutig.
"Oma", fragte sie, "Engel, die rückwärts fliegen, laufen die auch rückwärts?"
"Ganz bestimmt laufen die rückwärts", sagte Oma.
Vater pustete laut in seinen Kaffee.
Am Montag in der Schule schüttelte die Lehrerin den Kopf über Sanni. "Du sollst doch mit der rechten Hand schreiben, nicht mit der linken", sagte sie. "Die anderen Kinder machen das auch alle so."
"Das ist doch nicht schlimm", sagte Sanni. "Es gibt sogar Engel, die sich anders benehmen als alle anderen."
"Soso", sagte die Lehrerin. "Ich dachte, gerade Engel sind besonders brav."
Am Mittwochmorgen zeigte Jörg mit dem Finger auf Sanni und lachte sie aus. "Guckt mal, die Sanni kann sich noch nicht mal richtig anziehen!"
Sanni sah an sich herunter und merkte, dass sie ihre Jacke in der Eile verkehrt herum angezogen hatte.
"Na und", sagte sie. "Es gibt schließlich sogar Engel, die verkehrt herum fliegen!" Jörg lachte noch mehr, aber Sanni ließ sein Lachen einfach nicht in ihre Ohren, sondern stellte sich vor, es wäre das helle Klingeln der Engelsglocken.
Am Freitag sah sie, wie Rolf und Jörg auf dem Pausenhof mit harten Schneebällen nach dem kleinen Hajo warfen. "Seht mal, wie der Esel rennt!" riefen sie. Hajos eines Bein war kürzer als das andere und auch nicht so kräftig. Wenn er rannte, sah es ein wenig aus wie ein Galopp.
Sanni nahm Hajo bei der Hand. "Lasst ihn in Ruhe!" schrie sie. "Es macht nichts, dass er anders ist. Es gibt auch Engel, die anders laufen als alle anderen! Das sind ganz besondere Engel!"
"Die spinnt mit ihren Engeln", sagte Jörg zu Rolf. "Hast Du schon mal ´nen Engel gesehen, der rückwärts fliegt?"
"Ich hab überhaupt noch keinen Engel gesehen", sagte Rolf. "Die Sanni hat'n Knall."
Als Oma Sanni ins Bett brachte, erzählte sie der Oma alles.
"Hmmm", sagte Oma nur.
An diesem Sonntag brannten drei Kerzen auf dem Adventskranz, und der eine Engel flog immer noch rückwärts. Draußen schneite es zum ersten Mal in diesem Jahr.
Am Montag schneite es immer noch, und weil die Wolken so schwer und dunkel waren, wurde es gar nicht richtig hell draußen.
Mitten in der Mathestunde sprang Jörg, der am Fenster saß, plötzlich auf und zeigte aufgeregt nach draußen. "Da, seht mal!" Die anderen rannten auch zum Fenster. "Kinder!" rief die Lehrerin und schüttelte den Kopf. Niemand hörte ihr zu, also wurde auch sie neugierig und sah hinaus.
Draußen lief eine Gestalt über den Hof. Sie ging ein wenig krumm, aber das konnte an den bunten Päckchen liegen, die sie trug. Ihr Haar war weiß, aber das war bestimmt, weil es schneite. Auf dem Haar trug sie einen goldenen Heiligenschein, und ihr Gewand war hellblau und reichte bis zum Boden. Sanni fand, es hatte Ähnlichkeit mit Omas Bademantel, nur waren weiße Federn darauf verteilt.
Die Gestalt trug auch eindeutig zwei große, weiße Flügel auf dem Rücken.
"Ein… ein Engel!" stotterte Rolf.
"Und er geht rückwärts!" stellte Jörg fest und sah Sanni mit großen Augen an.
Sanni war beinahe genauso erstaunt und riss das Fenster weit auf, um besser sehen zu können.
Der Engel stapfte tatsächlich rückwärts durch den Schnee, der schon ziemlich tief geworden war. Er kämpfte sich über den ganzen Hof, ohne sich einmal umzudrehen, und verschwand um die Hausecke.
Sanni wollte am liebten hinunterrennen, aber die Lehrerin wurde nun wieder streng. "Wer nicht sofort auf seinem Platz ist, muss nachsitzen!" rief sie.
Jörg und Rolf tuschelten den Rest der Stunde aufgeregt miteinander.
Ein wenig später klopfte es an der Tür. Der Hausmeister kam mit einem blauen Päckchen herein. "Das ist für Hajo Hentschel abgegeben worden", sagte er.
Da die Stunde zu Ende war, durfte Hajo das Geschenk gleich auspacken. Er vergaß vor Aufregung beinahe, zu atmen. In dem Päckchen waren wunderschöne Kniestrümpfe, mit Rentieren und einem Weihnachtsmann darauf und einem feinen goldenen Rand obenherum.
"Das ist doch nichts für Jungs", sagte Jörg, doch man konnte sehen, dass er neidisch war. Hajo strahlte. Niemand würde mehr über seine Beine lachen, denn er trug Strümpfe, die ein Engel gestrickt hatte. Ein ganz besonderer Engel.
Die ganz Klasse stürmte auf den Hof und untersuchte die Spur, die der Engel im Schnee hinterlassen hatte. Man sah die Schleifspuren von seinem langen Gewand, und dass die Flügelspitzen ab und zu den Boden berührt hatten. Und der Engel war barfuss gewesen, wie es sich für Engel gehörte.
Die Fußspuren bewiesen auch, dass der Engel wirklich rückwärts gegangen war. Sogar Rolf und Jörg mussten das zugeben.
"Oma", sagte Sanni abends, "die Engel, die sich verkehrt benehmen, die mag ich am allerliebsten."
"Das freut die Engel bestimmt - hatschi!", sagte Oma und schnaubte in ihr Taschentuch.
Und obwohl Vater das ganze Wohnzimmer aufgeräumt und die Lichterketten gerade gerückt hatte, flog der Engel am Glockenspiel auch am vierten Advent rückwärts.

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BeitragVerfasst am: Di 12 Dez, 2006 10:25 Antworten mit ZitatNach oben

Das ist mal eine richtig schöne Geschichte.
Solche Oma hätte ich auch gerne gehabt.

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BeitragVerfasst am: Mi 13 Dez, 2006 10:28 Antworten mit ZitatNach oben

Nich wahr? Holt sich einen bösen Schnupfen für die Enkelin...

Die ist sozusagen specially for Kitty ;o)

WEIHNACHTEN IM KUSCHELZIMMER

(Katzengeschichte © Marion Weber)



Diese Weihnachtsgeschichte wird uns von Nicki, einer schon recht betagten Katzenmutter erzählt:
„Ihr wisst bestimmt auch meine lieben Katzen, dass Weihnachten ein tolles Fest ist, daher will ich euch mal eine Geschichte aus meiner Jugend erzählen. Heute bin ich eine 20 jährige Seniorin, die nicht mehr ganz so neugierig bei diesem hektischem Treiben ist, aber damals da wunderte ich mich schon ein wenig.......

Irgendwie war alles anders als sonst. Frauchen kam täglich schwer bepackt mit Päckchen und Taschen nach Hause. Und dieses Mal durfte ich nicht wie sonst, überall mal meine Nase hereinstecken um zu sehen, was sie uns denn Gutes mitgebracht hatte. Nein seltsam, sobald sie ihr Fell abgestreift und an den Haken gehängt hatte, schleppte sie die Tüten ins warme Kuschelzimmer. Dort öffnete sie geheimnisvoll die Schiebetüren des Schrankes und stopfte dort alles hinein.

Ich wollte protestieren, denn schließlich war dort oft mein Nachtlager auf den weichen Handtüchern oder der Bettwäsche, aber warte, ich würde mir meinen Platz schon wieder erobern. Nachts machte ich es mir dann schön bequem und raschelte nach Herzenslust in den ganzen Papierknäuels, bis mich mein Frauchen unwillig zurecht wies und mich einfach aus dem Schrank warf. Na das konnte ja heiter werden.

Aber schon am nächsten Tag wurde ich für die erlittene Enttäuschung entschädigt. Nach meinem Morgenspaziergang, oh was war das lausig kalt gewesen, strömten die herrlichsten Düfte an meiner Nase vorbei. Aufgeregt schmiegte ich mich an Frauchens Bein und rieb mein Köpfchen schon in Vorfreude auf die Happen, die da kommen würden. Doch irgend etwas stimmte nicht, sie schien nicht zu merken, dass ich da war, also miaute ich mal laut um ihr Bescheid zu geben, aber sie ließ nicht einen Krümel fallen und sich auch nicht durch meine Klagelaute erweichen, sondern forderte mich recht unsanft zum Verschwinden auf.

Mit hoch aufgerichtetem Schwanz, sie keines Blickes würdigend schritt ich beleidigt aus der Küche, schließlich hat man ja auch seinen Stolz. Mal sehen was meine Spielkameraden machten. Au fein, die waren in Spiellaune, sie rollten und knisterten immer mit buntem Papier und hatten mir auch kleine Kügelchen daran befestigt. Besonders die Kordel gefiel mir und so zog ich immer an der einen Seite und mein Zweibeiner an der anderen. Danach ging es zum raschelnden Papier.

Wir spielten verstecken, sobald ich an der einen Seite des Papiers hervorlugte, zogen sie an der anderen Seite und wollten mich schon einwickeln. Dann rannte immer einer von den Beiden hinter mir her, sobald ich mir mal eine Kleinigkeit von den diversen Rollen und Döschen geschnappt hatte. Ja das war doch ein feines Spielchen, aber Teil für Teil verschwand im Papier. So machte ich mich an die Arbeit, es wieder herauszuholen. Nun wurde das Spiel aber immer hektischer, sie jagten mich zu zweit und liefen laut schreiend zu meinem Frauchen in der Küche. Und "bumms" wurde die Türe vor meiner Nase zugemacht. Ja was war denn nur los? Hatte mich denn gar keiner mehr lieb und wollte mich mal streicheln? So zog ich ins große Schmusezimmer, schließlich würde Herrchen doch bald kommen.

Ich hatte gerade ein Ründchen geschlafen, da kam mein Herrchen mit einem riesigen Stachelbaum. Wie schön, da gab es aber viel zu schnuppern und nicht nur das, ich bekam jede Menge Holzstückchen, die noch ganz frisch und feucht waren. Wie, ich darf damit nicht spielen? Schwer keuchend verschwand der schöne Baum in einem Topf und Herrchen jaulte plötzlich auf. Au weia, das kannte ich, nichts wie weg hier, jetzt wurde es ungemütlich. Ich betrachtete das Geschehen lieber aus sicherer Entfernung.

Irgendwann muss ich wohl wieder eingeschlafen sein, denn plötzlich wurde ich durch ein Klirren geweckt. Der schöne Baum, man hatte mir ganz viel Spielzeug daran gehängt, wie aufmerksam! Sofort machte ich mich an die Arbeit und versuchte erst mal die Kugeln zu fangen, das machte Spaß. Mit Rieseneifer holte ich Kugel für Kugel wieder vom Baum und fegte mit den glänzenden Dingern über den Boden. Solche schöne Mäuschen hatte ich sonst nicht, toll wie sie rollten.

Ich hatte schon ein ansehnliches Sortiment unter der Couch angesammelt (so nannten meine Zweibeiner das bequeme kuschelige Sitzmöbel immer), als ich wohl zu übermütig an eine Kugel im Baum sprang, denn plötzlich wollte mich der Baum fangen und stürzte auf mich zu. Völlig erstaunt drückte ich mich erschreckt auf den Boden. Schon hatte ich auch das Interesse meiner Familie geweckt, die mich bestimmt trösten wollten, weil ich mich so erschrocken hatte.

Leider sah ich mich getäuscht, denn stattdessen wurde ich mit lautem Lamento (wenn alle so durcheinander schnattern) unsanft vom Boden gehoben und nach draußen verfrachtet. Was sollte ich hier? Drinnen waren die gute Gerüche und die Leckerbissen. Apropos Leckerbissen, mal sehen ob sich noch irgendwo ein Mäuschen herumtrieb.

Lange musste ich auf der Lauer liegen, aber für einen geübten Jäger eine Kleinigkeit. Meine Geduld wurde belohnt und blitzschnell schnappte ich zu. Stolz trug ich meine Maus im Maul nach Hause. Man hatte sich wieder meiner erinnert und ließ mich auf mein Kratzen hin herein. Keiner beachtete mich so recht, dabei hatte ich doch solch ein schönes Geschenk mitgebracht.

Im großen Schmuse-Streichelzimmer stand der Baum wieder und meine ganzen schönen Kugeln unter der Couch waren verschwunden und hingen wieder an demselben. Wohin nun mit meiner Maus? Wie konnte ich sie meinen Menschen zeigen, damit ich endlich meine Belohnung bekam?

Ach ja, da standen Teller mit bunten allerlei holzigen Kugeln, da würde ich sie ein wenig verbuddeln. Stolz legte ich mich neben den Teller und wartete darauf, dass mich endlich jemand für meine tolle Jagdbeute lobte, aber ich musste mich gedulden. Sie saßen dort am Tisch vor vielen Päckchen und zerrten an dem Papier, um alles wieder auszupacken. Komisch, und mir haben sie dafür die Türe vor der Nase zugeknallt, ungerechte Welt!

Nun kommt doch endlich auch mal mein Geschenk gucken. Endlich war es soweit, einer meiner Spielkameraden steuerte auf meine Maus zu. Er nahm sich die Holzdinger und quetschte sie in eine Zange, um dann doch alles wieder in kleinen Stücken in eine Schale zu legen. Blödes Spiel, Kugeln gefallen mir entschieden besser. Aber endlich packte er auch meine Maus. Doch was war das?

Er sprang auf und quiekte und ließ mein schönes Mäuschen wieder fallen. Plötzlich standen alle Zweibeiner um mich herum und wollten mein Geschenk bewundern. Blitzschnell packte ich es wieder und trug es zu meinem Frauchen. Sie streichelte und lobte mich.

Sie hatte vollstes Verständnis dafür, dass ich meine Maus nicht als Geschenk verpacken konnte und quiekte nicht. Ihr gefiel mein Geschenk auch so. Sie belohnte mich endlich mit den ersehnten köstlichen Happen, so hatte sich doch meine Jagd gelohnt und das Weihnachtsfest konnte auch für mich anfangen. Ich bekam ein Tellerchen mit kleinen Hackfleischkugeln, die ich von da an, immer zu Weihnachten bekam, sogar wenn ich mal keine Maus gefangen hatte.

Also meine lieben Katzen, wenn ihr euren Zweibeinern ein Geschenk zu Weihnachten machen wollt, versucht es, ein wenig unter buntem Papier zu verstecken, denn das scheint die Zweibeiner sehr zu freuen.“

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Zuletzt bearbeitet von Tieger am Fr 15 Dez, 2006 12:39, insgesamt einmal bearbeitet
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BeitragVerfasst am: Do 14 Dez, 2006 12:52 Antworten mit ZitatNach oben

14.12.

Das Paket des lieben Gottes
Berthold Brecht
Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter an den Ofen und vergeßt den Rum nicht. Es ist gut, es warm zu haben, wen man von der Kälte erzählt.

manche Leute, vor allem eine gewisse Sorte Männer, die etwas gegen Sentimentalität hat, haben eine starke Aversion gegen Weihnachten. Aber zumindest ein Weihnachten in meinem leben ist bei mir wirklich in bester Erinnerung. Das war der Weihnachtsabend 1908 in Chicago.

Ich war anfangs November nach Chicago gekommen, und man sagte mir sofort, als ich mich nach der allgemeinen Lage erkundigte, es würde der härteste Winter werden, den diese ohnehin genügend unangenehme Stadt zustande bringen könnte. Als ich fragte, wie es mit den Chancen für einen Kesselschmied stünde, sagte man mir, Kesselschmiede hätten keine Chance, und als ich eine halbwegs mögliche Schlafstelle suchte, war alles zu teuer für mich. Und das erfuhren in diesem Winter 1908 viele in Chicago, aus allen Berufen.

Und der Wind wehte scheußlich vom Michigan-See herüber durch den ganzen Dezember, und gegen Ende des Monats schlossen auch noch eine Reihe großer Fleischpackereien ihren Betrieb und waren eine ganze Flut von Arbeitslosen auf die kalten Straßen.

Wir trabten die ganzen Tage durch sämtliche Stadtviertel und suchten verzweifelt nach etwas Arbeit und waren froh, wenn wir am Abend in einem winzigen, mit erschöpften Leuten angefüllten Lokale im Schlachthofviertel unterkommen konnten. Dort hatten wir es wenigstens warm und konnten ruhig sitzen. Und wir saßen, so lange es irgend ging, mit einem Glas Whisky, und wir sparten alles den Tag über auf dieses eine Glas Whisky, in das noch Wärme, Lärm und Kameraden mit einbegriffen waren, all das, was es an Hoffnung für uns noch gab.

Dort saßen wir auch am Weihnachtsabend dieses Jahres, und das Lokal war noch überfüllter als gewöhnlich und der Whisky noch wässeriger und das Publikum noch verzweifelter. Es ist einleuchtend, daß weder das Publikum noch der Wirt in Feststimmung geraten, wenn das ganze Problem der Gäste darin besteht, mit einem Glas eine ganze Nacht auszureichen, und das ganze Problem des Wirtes, diejenigen hinauszubringen, die leere Gläser vor sich stehen hatten.

Aber gegen zehn Uhr kamen zwei, drei Burschen herein, die, der Teufel mochte wissen woher, ein paar Dollars in der Tasche hatten, und die luden, weil es doch eben Weihnachten war und Sentimentalität in der Luft lag, das ganze Publikum ein, ein paar Extragläser zu leeren. fünf Minuten darauf war das ganze Lokal nicht wiederzuerkennen.

Alle holten sich frischen Whisky (und paßten nun ungeheuer genau darauf auf, daß ganz korrekt eingeschenkt wurde), die Tische wurden zusammengerückt, und ein verfroren aussehendes Mädchen wurde gebeten, einen Cakewalk zu tanzen, wobei sämtliche Festteilnehmer mit den Händen den Takt klatschten. Aber was soll ich sagen, der Teufel mochte seine schwarze Hand im Spiel haben, es kam keine reche Stimmung auf.

Ja, geradezu von Anfang an nahm die Veranstaltung einen direkt bösartigen Charakter an. ich denke, es war der zwang, sich beschenken lassen zu müssen, der alle so aufreizte. Die Spender dieser Weihnachtsstimmung wurden nicht mit freundlichen Augen betrachtet. Schon nach den ersten Gläsern des gestifteten Whiskys wurde der Plan gefaßt, eine regelrechte Weihnachtsbescherung, sozusagen ein Unternehmen größeren Stils, vorzunehmen.

Da ein Ãœberfluß an Geschenkartikeln nicht vorhanden war, wollte man sich weniger an direkt wertvolle und mehr an solche Geschenke halten, die für die zu Beschenkenden passend waren und vielleicht sogar einen tieferen Sinn ergaben.

so schenkten wir dem Wirt einen Kübel mit schmutzigem Schneewasser von draußen, wo es davon gerade genug gab, damit er mit seinem alten Whisky noch ins neue Jahr hinein ausreichte. Dem Kellner schenkten wir eine alte, erbrochene Konservenbüchse, damit er wenigstens ein anständiges Servicestück hätte, und einem zum Lokal gehörigen Mädchen ein schartiges Taschenmesser, damit es wenigstens die Schicht Puder vom vergangenen Jahr abkratzen könnte.

Alle diese Geschenke wurden von den Anwesenden, vielleicht nur die Beschenkten ausgenommen, mit herausforderndem Beifall bedacht. Und dann kam der Hauptspaß.

Es war nämlich unter uns ein Mann, der mußte einen schwachen Punkt haben. Er saß jeden Abend da, und Leute, die sich auf dergleichen verstanden, glaubten mit Sicherheit behaupten zu können, daß er, so gleichgültig er sich auch geben mochte, eine gewisse, unüberwindliche Scheu vor allem, was mit der Polizei zusammenhing, haben mußte. Aber jeder Mensch konnte sehen, daß er in keiner guten Haut steckte.

Für diesen Mann dachten wir uns etwas ganz Besonderes aus. Aus einem alten Adreßbuch rissen wir mit Erlaubnis des Wirtes drei Seiten aus, auf denen lauter Polizeiwachen standen, schlugen sie sorgfältig in eine Zeitung und überreichten das Paket unserm Mann.

Es trat eine große Stille ein, als wir es überreichten. Der Mann nahm zögernd das Paket in die Hand und sah uns mit einem etwas kalkigen Lächeln von unten herauf an. Ich merkte, wie er mit den Fingern das Paket anfühlte, um schon vor dem Öffnen festzustellen, was darin sein könnte. Aber dann machte er es rasch auf.

Und nun geschah etwas sehr merkwürdiges. Der Man nestelte eben an der Schnur, mit der das Geschenk" verschnürt war, als sein Blick, scheinbar abwesend, auf das Zeitungsblatt fiel, in das die interessanten Adreßbuchblätter geschlagen waren. Aber da war sein Blick schon nicht mehr abwesend. Sein ganzer dünner Körper (er war sehr lang) krümmte sich sozusagen um das Zeitungsblatt zusammen, er bückte sein Gesicht tief darauf herunter und las. Niemals, weder vor- noch nachher, habe ich je einen Menschen so lesen sehen. Er verschlang das, was er las, einfach. Und dann schaute er auf. Und wieder hatte ich niemals, weder vor- noch nachher, einen Mann so strahlend schauen sehen wir diesen Mann.

Da lese ich eben in der Zeitung", sagte er mit einer verrosteten mühsam ruhigen Stimme, die in lächerlichem Gegensatz zu seinem strahlenden Gesicht stand, daß die ganze Sache einfach schon lang aufgeklärt ist. Jedermann in Ohio weiß, daß ich mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hatte." Und dann lachte er.

Und wir alle, die erstaunt dabei standen und etwas ganz anderes erwartet hatten und fast nur begriffen, daß der Mann unter irgendeiner Beschuldigung gestanden und inzwischen, wie er eben aus dem Zeitungsblatt erfahren hatte, rehabilitiert worden war, fingen plötzlich an, aus vollem Halse und fast aus dem Herzen mitzulachen, und dadurch kam ein großer Schwung in unsere Veranstaltung, die gewisse Bitterkeit war überhaupt vergessen, und es wurde ein ausgezeichnetes Weihnachten, das bis zum morgen dauerte und alle befriedigte.

Und bei dieser allgemeinen Befriedigung spielte es natürlich gar keine Rolle mehr, daß dieses Zeitungsblatt nicht wir ausgesucht hatten, sondern Gott.

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BeitragVerfasst am: Do 14 Dez, 2006 13:41 Antworten mit ZitatNach oben

Tja, was Gott so immer aussucht.
Wir verstehen es nicht immer.
Oder eher dann, wenn es schon später ist.

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BeitragVerfasst am: Do 14 Dez, 2006 15:03 Antworten mit ZitatNach oben

Hm, tolle Geschichte... Allerdings muss ich, als Atheistin schon mal, nachfragen! Wie kommt der Autor der Geschichte dann darauf, dass Gott die Zeitung aussuchte??
NA ja, ich lass es mal so stehen *gg*

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BeitragVerfasst am: Do 14 Dez, 2006 15:12 Antworten mit ZitatNach oben

*grins* So ein Kommentar war von Dir ja zu erwarten ... ;)
War eine interessante Wirkung - die wollen jemandem eins auswischen und tun ihm statt dessen so einen dicken Gefallen.

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BeitragVerfasst am: Do 14 Dez, 2006 15:23 Antworten mit ZitatNach oben

*grins*
Langsam kennt Ihr mich halt doch...
Ja, wirklich aus dem Leben gegriffen. Wie oft passiert es, dass man genau das Gegenteil von dem bekommt was man eigentlich bezwecken wollte...

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BeitragVerfasst am: Fr 15 Dez, 2006 10:13 Antworten mit ZitatNach oben

Das das von Brecht, der ja eine rote Seele hatte...

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BeitragVerfasst am: Fr 15 Dez, 2006 12:30 Antworten mit ZitatNach oben

Wusste ich doch, dass das eine diskussion anregende Geschichte für dieses Forum sein würde ;o)

heute aber eine kitschig-schöne wieder ;o)

Engelshaar

(Weihnachtsgeschichte © Brigitte Kemptner, Brühl)



Das Licht in dem kleinen, schäbigen Häuschen am Rande des Dorfes wurde früh gelöscht, um Strom zu sparen. Es war noch nicht einmal sieben Uhr abends, als draußen dicke Schneeflocken vom Himmel fielen und die kalte Erde bedeckten. Noch zwei Tage bis Heiligabend.
Im einzigen warmen Raum des Häuschens, der Küche, zündete Karina ein paar Kerzen an, die sie aus Wachsresten selbst hergestellt hatte. Sie spendeten genug Helligkeit, um ihren beiden Kindern Mara und Lara eine Weihnachtsgeschichte vorzulesen.

Karina liest vorDie Mädchen hörten aufmerksam zu und nachdem Karina zu Ende gelesen hatte, schloss sie das Buch und erhob sich.
"Jetzt mache ich uns noch ein Stück Brot und einen Becher warme Milch, dann geht ihr schlafen", sagte sie mit liebevoller Stimme. Eine halbe Stunde später lagen die Mädchen dicht aneinandergekuschelt in dem engen Bett, und die Augen fielen ihnen schon nach wenigen Minuten zu. Die junge Frau trat an das Küchenfenster und schaute in die Dunkelheit. Es schneite immer noch, und sie hoffte, dass Johannes ohne große Schwierigkeiten den weiten Weg nach Hause schaffte.
Da die Familie arm war, arbeitete die junge Mutter tagsüber als Hausgehilfin bei verschiedenen Familien. Johannes, ihr Mann, verdiente nur einen geringen Lohn als Nachtwächter in einer Lagerhalle. Doch das Geld reichte nicht aus, und so freuten sie sich über jede Gabe, die ihnen barmherzige Mitmenschen zukommen ließen.

Die beiden Mädchen, Mara und Lara, hatten keine Freunde unter den anderen Kindern der Gemeinde. Weil sie immer in geflickten, abgetragenen und schäbigen Kleidern herumliefen, mussten sie oft bösartige Hänseleien und Schimpfwörter über sich ergehen lassen. Aber trotz all dieser Armut hielten die vier Menschen fest zusammen und freuten sich, wie jedes Jahr, auf das Weihnachtsfest. Große Geschenke würde es allerdings auch heuer keine geben, doch mit wenigen Münzen kaufte Karina Dinge, von denen der handwerklich sehr begabte Vater die tollsten Sachen anfertigen konnte. Außerdem, so dachte sie bei sich, gibt die Natur das ganze Jahr über Vieles her und zudem umsonst.

Am nächsten Tag schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, doch es war eiskalt. Karina saß mit ihren Kindern in der warmen Küche, während der Vater, erst gegen Morgen heimgekehrt, im kalten Schlafzimmer nebenan noch tief schlummerte. Später spielten Mara und Lara im Schnee, und die Mutter bereitete das karge Mittagessen vor, damit es Johannes für seine Kinder und sich nur noch kurz erwärmen musste. Anschließend ging sie arbeiten. Karina tat es immer wieder in der Seele weh, die beiden fünf- und sechsjährigen Töchter allein zu lassen und war froh, dass ab und zu die freundliche alte Dame aus der Nachbarschaft nach ihnen sah, bis Johannes ausgeschlafen hatte.

Es dämmerte schon, als Karina wieder nach Hause kam. Die Kerzen brannten bereits und sie wunderte sich sehr darüber.
"Man hat uns den Strom abgestellt.", begrüßte Johannes sie.
Deshalb die Kerzen, dachte Karina traurig. Glücklicherweise war ein größerer Vorrat davon vorhanden.
Da Karina keinen Tee zum Abendbrot kochen konnte, erwärmte sie die Milch, die ihr die nette Frau aus dem Lebensmittelladen geschenkt hatte, auf der Feuerstelle.
Wie lange wohl der Holzvorrat reichen mag? fragte sie sich.

Nachdem der Vater zur Arbeit aufgebrochen war, baten die Kinder ihre Mutter, ihnen eine neue Geschichte aus dem Weihnachtsbuch vorzulesen. Jedoch es kam nicht dazu, denn ein lautes Klopfen an der Haustür war zu hören. Die drei Menschen blickten sich erschrocken an.
Wenn das nur nicht der Hausvermieter ist, dachte die junge Frau mit Entsetzen. Wieder klopfte es.
"Willst du nicht aufmachen, Mami?", drang Mara`s Stimme an ihr Ohr. Die Mutter erhob sich und wenig später öffnete sie mit klopfendem Herzen.
Draußen in der Kälte stand nicht, wie vermutet, der Vermieter, sondern ein junges Mädchen, eingehüllt in ein dunkles, bis zu den Knöcheln reichendes Cape, mit Kapuze.


"Guten Abend, habt ihr vielleicht ein warmes Plätzchen für mich? Ich komme von weit her und meine Füße sind schon ganz durchgefroren."
Mara, Lara und die Mutter blickten gleichzeitig auf die kleinen, nackten Füße, die in Sandalen steckten und Karina fand es recht seltsam, dass jemand zu dieser Jahreszeit noch offene Schuhe trug.
Sie gaben die Tür frei, damit die späte Besucherin eintreten konnte. und führten sie in die Küche, wo es angenehm warm war.
Das Mädchen schob die Kapuze von ihrem Kopf und eine Flut langer blonder Haare ergoss sich über ihre Schultern. Die beiden Kinder sahen sie verwundert an und waren von ihrem Liebreiz gleich gefangen.


"Sie sieht aus wie der Engel in unserem Weihnachtsbuch.", flüsterte Mara ihrer Schwester zu.
"Quatsch", erwiderte Lara, "Engel haben doch Flügel und sie nicht."
Das junge Mädchen lächelte den Kindern freundlich zu und sagte: "Mein Name ist Anna, und wie heißt ihr?" Weihnachtsengel
Die Beiden stellten sich vor und gingen daraufhin in ihre kleine Spielecke. Sie tuschelten miteinander.
Karina bat ihren Gast, am Küchentisch Platz zu nehmen, nachdem sie ein paar warme, selbst gestrickte Socken geholt hatte. Diese reichte sie Anna. "Die Wolle kratzt zwar etwas, aber die Füße werden gleich warm", sagte Karina und blickte zu ihren Kindern, die jetzt in ihrer Ecke miteinander spielten.

Ein feuerfestes Gefäß, gefüllt mit Milch stand kurze Zeit später auf dem Ofen und als sie warm genug war, tranken alle einen Becher. Dazu aßen sie von dem leckeren Kuchen, den die nette alte Dame aus der Nachbarschaft ihnen am Mittag vorbeigebracht hatte.
Karina hielt es für das Beste, wenn Anna bei ihnen die Nacht verbrachte und bot ihr das Bett der Kinder an.
"Die Beiden können bei uns schlafen.", meinte die junge Frau. Doch Anna schüttelte den Kopf. "Das kommt überhaupt nicht in Frage. Die Kinder brauchen ihr Bett. Ich lege mich auf die Bank hier in der Küche. Es macht mir wirklich nichts aus." Karina merkte, dass Anna sich keineswegs umstimmen ließ und gab nach.

Damit es Anne nicht ganz so unbequem auf der harten Bank hatte, legte die Hausherrin eine Wolldecke darauf und gab ihr noch eine zum Zudecken. Bevor die Kinder allerdings ins Bett gingen, wollten sie unbedingt einmal Annas Haare anfassen. Karina entschuldigte sich für diese recht außergewöhnliche Bitte ihrer Sprösslinge, doch das junge Mädchen lächelte nur und meinte: "Natürlich dürfen die Kinder es anfassen." Und zu den Mädchen gewandt fragte sie: "Habt ihr denn noch nie solche Haare gesehen?"
Mara und Lara schüttelten ihre Köpfe.
"Nein", ertönte es einstimmig. Vorsichtig griffen ihre Hände in das Goldhaar des Mädchens.
"Es fühlt sich an wie Engelhaar", meinte Mara und Lara stimmte ihr zu.
"So weich und zart, Mami, wie in den Weihnachtsgeschichten, die du uns vorliest." Wenig später lagen die Zwei im Bett. An Schlaf war allerdings noch nicht zu denken, denn die junge Anna mit dem Engelshaar ging ihnen nicht aus dem Sinn.

Heiligabend! Johannes war in der Nacht etwas früher heimgekehrt und saß mit seiner Familie beim Frühstück. Es fiel nicht sehr üppig aus, und trotzdem teilten sie es mit ihrem Gast, Anna.
Karina arbeitete an diesem Tage nicht. Zwar gab es in ihrem Hause keine großen Weihnachtsvorbereitungen zu treffen, trotzdem wollte sie den Kindern das Fest so schön wie nur irgend möglich machen. Johannes holte frische Tannenzweige aus dem Wald, und Karina bastelte einen schönen Kranz, verzierte ihn mit Tannenzapfen, kleinen Figuren, die ihr Mann aus Holzstückchen schnitzte, Kastanien, die die Kinder schon im Herbst gesammelt hatten und getrockneten Blüten. Sie befestigte die Kerzen und stellte das fertige Werk auf den Küchentisch.

So verging der Vormittag, und Anna machte keinerlei Anstalten, sich zu verabschieden. Die Kinder schwirrten um sie herum und waren ganz ausgelassen und fröhlich. Das junge Mädchen erzählte ihnen eine Geschichte und sie sangen ein Lied miteinander.
Zur Mittagszeit kam die nette, alte Dame aus der Nachbarschaft vorbei und brachte ihnen einen Topf mit dampfender Hühnersuppe. Sie wünschte ihnen ein frohes Fest und sagte, dass sie mit ihren Kindern zusammen feierte.
Zu fünft machten sie sich über sie Suppe her und bald war der Topf bis auf den letzten Tropfen leer. Am Nachmittag kam das Unheil in Gestalt des Vermieters. Er fand es nicht einmal für nötig, der Familie frohe Weihnachten zu wünschen, sondern ging sofort auf sein Ziel los.
"Gleich nach den Feiertagen räumen Sie das Haus, ich habe schon neue Mieter dafür. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden." Ohne die Familie noch eines Blickes zu würdigen, wollte er sich zur Tür abwenden. Doch da trat Anna vor und hinderte ihn am Gehen.


"Was gibt’s denn noch?", brummte er unfreundlich, doch schon im nächsten Augenblick brachte er kein Wort mehr über seine Lippen.
"Schämen Sie sich denn nicht, arme Leute, die nichts haben, außer einem guten Herzen an einem Tag wie heute des Hauses zu verweisen? Haben Sie keine Seele in der Brust? Haben Sie niemals über den Sinn der Weihnachtszeit nachgedacht? Was sind Sie nur für ein Mensch, der sich am Geburtstag des Heilands so unmenschlich zeigt?" Anna hatte mit ruhiger, fast sanfter Stimme gesprochen. Karina, Johannes und die Kinder standen nur da und schauten sie an. Der Vermieter brachte noch immer kein Wort heraus. Wie gebannt starrte er das engelhafte Wesen an, bis er plötzlich zusammenzuckte und mit gesenktem Kopf das Haus verließ. Er murmelte noch etwas in seinen Bart, das man als Frohe Weihnachten hätte deuten können, aber sicher war sich niemand.

Anna schaute zuerst die Kinder an, strich ihnen übers Haar und sagte zu Karina und Johannes gewandt: "Ihr wart gestern die Einzigen, die mich einließen. Ãœberall wo ich anklopfte, wurde ich abgewiesen. Das werde ich niemals vergessen. Vergelts Gott. Nun wünsche ich euch ein frohes Weihnachtsfest." Anna fuhr sich durchs Haar und hielt plötzlich ein paar Seidenfäden in der Hand. Sie reichte diese Karina.
"Für jedes dieser Haare habt ihr einen Wunsch frei, doch gebt Acht, dass ihr in eurer Freude darüber nicht übermütig werdet und den Blick für das Wesentliche verliert. Das müsst ihr mir versprechen."
Sie brachten alle Vier keinen einzigen Ton heraus und nickten nur. Anne ging zur Tür und öffnete sie. Draußen brach gerade die Dämmerung herein.
"Lebt wohl!", rief sie noch einmal zurück, dann hatte die aufkommende Dunkelheit sie verschluckt.

Karinas Knie zitterten mit einem Male und sie musste sich setzen. Sie blickte zu ihrer Hand ‚Engelshaar’, dachte sie beim Anblick der seidenen Fäden und für ein paar Minuten herrschte Schweigen.

"Mami, Mami!", hörte sie wenig später die Kinder rufen. "Ãœberall liegen solche Haare, und jetzt, hörst du es? Irgendwo läutet ein Glöckchen." Mara und Lara lauschten, und da hörten es auch die Eltern: Das feine Klingen eines Glöckchens.
"Was ist das?", wollte Mara wissen.
Karina lächelte.
"Anna ist ein Engel. Wisst ihr, Kinder, immer dann, wenn ein Glöckchen klingelt, bekommt ein Engel seine Flügel."
"Siehste", sagte Mara, "Ich habe es doch gleich gewusst, dass Anna ein Engel ist. Aber warum hatte sie keine Flügel, als sie hier war?"
Karina lächelte immer noch: "Anna hat uns beschenkt und dafür wurde sie mit Flügeln belohnt."
Die Kinder hatten verstanden.

Es war wohl das schönste Weihnachtsfest seit Jahren, das in dem kleinen, schäbigen Häuschen am Rande des Dorfes gefeiert wurde.

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BeitragVerfasst am: Fr 15 Dez, 2006 13:00 Antworten mit ZitatNach oben

Ja, das ist wieder mehr die traditionelle Weihnachtsgeschichte, und sehr nett. Aber ich hätte doch gern gewußt, ob sie das Engelshaar so einsetzen konnten, daß sich ihre Situation dauerhaft deutlich verbesserte. Die Story hört zu früh auf.

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